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Trend 2: Die Religiosität der Marke

By Januar 4, 2011 Mai 12th, 2019 4 Comments
Religiosität der Marke

Das Verschwinden der Mittelschicht zieht zwei Tendenzen nach sich: Der vermögende, gebildete Bürger (wir nennen ihn Robinson Krösus und werden ihn 2011 einer näheren Betrachtung unterziehen) zieht sich zurück auf eine (schweizer) Insel.

Tendenz zwei: Die im Lande verbleibende Unterschicht, wird nach dem Vorbild der Revuen der 30er Jahre „ruhig gestellt“. Die „Revuen“ des 21. Jahrhunderts werden allerdings nicht so aufwendig produziert, vielmehr begleiten schlecht bezahlte Fernsehproduktionen Gerichtsvollzieher oder Polizeistreifen und des nächtens flimmern dann Familientragödien durch den digitalen Äther, man versteckt Intelligenz hinter Schlingpflanzen und verblödet quotengerecht im Dschungelcamp und Saturn unterstreicht mit dem Claim den Ausverkaufsstatus der Nation: Alles sternhagel günstig –  oder: Geiz ist geil statt Geist ist geil (in Anlehnung an DUPLO: die wohl längste Peinlichkeit der Kommunikationsgeschichte).

Neoprimitivismus

Die einschaltquotengerechte Trivialität wird zum Normalgeschmack deklariert, der von Bolz und Bossart bereits im Jahr 1999 skizzierte „Neoprimitivismus“ scheint sich auf einen neuen Höhepunkt zuzubewegen. Die fortschreitende Heldendämmerung in Verbindung mit einem Bildungsdesaster und einem Verschwinden tradierter Säulen der Gesellschaft führt zwangsläufig zu einem Wertevakuum, das durch Politikverdrossenheit noch verstärkt wird, die Zeit spricht in diesem Zusammenhang bereits im März 2010 vom Empörungsbürger. Wen wundert es also, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache im Dezember den Begriff Wutbürger zum Wort des Jahres wählt. Norbert Bolz merkt hierzu an, dass der erhobene Ton nicht ein Ton der Kritik ist, sondern ein Ton einer modischen Wut, was letztendlich die Überzeugungsarbeit erspart – Entrüstung gilt als Echtheitsbeweis, weil die Medien den Skandal als demokratischen Schauprozess inszenieren, die dann die Zuschauer quotengerecht und lustvoll konsumieren.

Während sich halb Europa unter den Rettungsschirm verzieht (ein weiteres Un-Wort des alten Jahres) bleibt das Individuum im Regen stehen. Politik, Gewerkschaften und auch die Kirchen (die einen durch Missbrauch von Kindern, die anderen durch Missbrauch von Alkohol) sind als Institutionen ins Wanken geraten (wobei die evangelische Alkoholsünderin wenigstens noch Bücher verkaufen kann…) – wen wundert, dass Bolz und Bosshart Religion und Politik unterstellen, dass sie die Entwicklung zur Kundenorientierung verschlafen haben.

Zusatznutzen vs. Religiöse Funktionalität

Die Vershofensche Unterteilung in Grundnutzen und Zusatznutzen erfährt eine vollkommen neue Bedeutung, muss doch die Marke mittlerweile auch deutlich religiöse Funktionalitäten übernehmen und dies nicht nur durch die Namensgebung wie „Heaven“, „Eden“ oder Eternity. Auffallend in diesem Zusammenhang: Die Altäre und Kathedralen haben ein vollkommen neues Antlitz bekommen.

Horx bezeichnet Marken als Kulte der modernen Zivilisation. Als Sinnsystem bieten sie dem Individuum Halt und Orientierung. Marken sind demzufolge als Kulte für das Individuum einzustufen, die dessen verloren gegangenes Wertesystem strukturieren. Bolz/Bossart unterstreichen dies mit der Feststellung, dass „gerade in unserer so coolen Zeit der Götterbedarf enorm sei“.

In Zeiten extremen Götterbedarfs aufgrund systemimmanenter Desillusion übernimmt die Marke religiöse Funktionen, die jedoch von der theoretischen Konzeptionierung der Marktwirtschaft nie vorgesehen waren. Der säkularisierte Heilsweg der Marke durch alle Epochen hindurch war mit Abgabe der alleinig wertegebenden Macht der katholischen Kirche nicht abzusehen. Qua Definition ging diese sinngebende Macht mit der französischen Revolution von der Kirche an die Politik über, die ihre neu gewonnenen Privilegien allerdings bereits zu Anfang des Jahrtausends auf ein „Enttäuschungsmanagement“ (Bolz) reduzierte.

Die unendlichen Weiten der Social Media Netze, in denen sich das Individuum allzu schnell verlieren kann, unterstreichen nochmals die Notwenigkeit von Ritualen, Kulten, Göttern und wertegebenden Institutionen. Vor ungefähr 15 Jahren fielen über 4.000 Marken mit einem Werbeetat von über einer Million DM über den Verbraucher her. Das entsprach etwa einem täglichen Volumen von ca. 2.500 TV Spots, 4.500 Radio Spots und ca. 1.500 Printanzeigen, die auf den Einzelnen einprasselten. Gleichzeitig jedoch umfasste der durchschnittliche Wortschatz eines Konsumenten zur damaligen Zeit gerade mal ca. 1.800 Wörter. Das heutige Bildungsdrama dürfte den Wortschatz eines „Durchschnittsdeutschen“ nochmals drastisch reduziert haben – auf einen vierstelligen Wert wird gehofft…

Zu Fernsehkanälen, Radiostationen, Printmedien und Online Communities gesellen sich nun seitens facebook weltweit über 900 Millionen Fanseiten, Gruppenseiten etc. und der DurchschnittsUser verlinkt sich mit ca. 80 dieser Seiten, Gruppe etc. was im Schnitt in mehr als 30 Milliarden erzeugte „Informationen“ (Web Links, News, Blog Posts, Fotoalben etc.) pro Monat mündet. In diesem Zusammenhang von einem WIRRklichkeitsRAUM zu sprechen, erscheint passend.

Religiosität der Marke

Religiöse Funktionalität: Die Marke als Fels in der multimedialen Brandung, Orientierung im Social Media Dschungel. Über seine Zugehörigkeit beispielsweise zur Nutella Sekte signalisiert das paarungswillige Männchen, dass er die tiefsten Wünsche aller Frauen versteht (gibt es eine Frau, die nicht nutellasüchtig ist?). Gleichzeitig taucht der Social Media Reisende ein in die Nutella Gemeinde von 7,2 Millionen Fans (unabhängig davon verwundert es nicht, dass es tatsächlich eine kleine Nutella Gruppe mit religiösem Titelfoto gibt).

Social Media Wandelnde frönen stets dem Polytheismus. Die Bolzsche Doppelkodierung des Konsums (was bei Aldi gespart wurde, wird bei Armani ausgegeben) ist zur polytheistischen Global-Religion avanciert. Das Individuum definiert sich und seine Persönlichkeit über ein multidimensionales Portfolio an Marken, angefangen mit dem Automobil über Mode bis hin zum Kultgetränk oder der weiter oben zitierten Haselnuss-Droge. Angehöriger fremder Glaubensgemeinschaften erkennen so, ob das Gegenüber cool und vor allem authentisch ist oder nicht und ob man Zeit zum Lesen der Postings investiert (die Gruppen wie „Dank Ed Hardy erkenne ich Vollidioten sofort“ erfreuen sich deshalb großer Beliebtheit – die Zugehörigkeit zu „Richtige Männer drücken Frauen beim Küssen gegen die Wand“ verdeutlich sofort die Geisteshaltung) .

Bis hier konnte gezeigt werden, dass der Zusatznutzen, die Religiosität, deutlich im Zentrum des Verbraucherinteresses steht. Der Grundnutzen wird als taken for granted vorausgesetzt, so wird beispielsweise die technische Tauglichkeit eines Navigationsgerätes von keinem Verbraucher in Frage gestellt, der religiöse Zusatznutzen „Wohlfühlen“, „Freunde treffen“, „Außergewöhnliches erleben“ jedoch wird von keinem NavigationsMarketeer in den Vordergrund gestellt: „Ich glaube an die Kraft meines Navigationsgerätes“ ist de facto nicht manifestiert… Smartphones hingegen werden in Kathedralen gekauft, sie navigieren, sie kommunizieren und sie sind die religiösen Überraschungseier der zweiten Postmoderne: Was zum Spielen, was Spannendes und was zum Naschen.

Der Verbraucher, so zeigt das Navigationsbeispiel erwartet deutlich mehr als nur den (technischen) Grundnutzen, die emotionale Aufladung der Marke ist demzufolge ein Megatrend der nächsten Jahre, denn nur wenn die Marke religiöse Züge trägt, wenn sie Kult-Charakter und ein klares Leitbild hat, steigt sie auf in die heiligen Hallen des Verbrauchervertrauens und wird ein akzeptierter Teil des sozio-virtuellen Olymps, Billigmarken oder Nachahmer hingegen steigen ab in den Hades des Vergessens…

 

 

Trend 1: Arbeiten im WIRRklichkeitsRAUM

 

Trend 2: Die Religiosität der Marke

 

Trend 3: Echtzeitkommunikation

 

Trend 4: Sozial-kognitive Dissonanz

 

Trend 5: Das Zeitalter der Charismatiker

 

Trend 6: Intuitive Ballistik – Das Ende der Zielgruppe

 

Trend 7: Das Ende der Politischen Korrektheit