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Die Schamgesellschaft: Verachtung als gesellschaftliche Norm

By Oktober 9, 2012 Mai 12th, 2019 One Comment
Schamgesellschaft

Die moderne Gesellschaft musste sich im Laufe der letzte Jahre unterschiedlich beschimpfen lassen: In der Volkswirtschaft sprach man despektierlich von Wirtschaftssubjekten, der Begriff „faule Säcke“ wurde liebevoll als „Freizeitgesellschaft“ umschrieben, „Risikogesellschaft“ titulierte sie treffend Beck, als „Ego-Gesellschaft“ geisterte sie durch Spiegel & Co. um Atomisierungsprozesse drastisch zu verdeutlichen und nun auch noch „Schamgesellschaft“.

Scham und Schuld sind gewichtige Themen in einer Gesellschaft, dicht gefolgt von Gewissen, Verantwortungsgefühl, Pflicht, Verpflichtung oder Ethik und mit diesem Begriff ist man schon wieder in einem Bereich, in dem sich Religion und Staat in die Wolle kriegen, wer denn das Hoheitsrecht auf Ethik, den Glauben (an was auch immer) und das Schämen hat.

Um nicht zwischen die Fronten zu kommen, wird im folgenden Scham als Kulturphänomen gesehen. Die Trennung zwischen Staat und Kirche wird, wenn auch nicht vollzogen, vorausgesetzt – weiter im Text….

Zum besseren Verständnis der Schamgesellschaft wird an dieser Stelle ein weiterer Begriff in Stellung gebracht: Verachtung. Nach Sloterdijk sind im Begriff der Masse Merkmale miteingesetzt, die zu einer Vorenthaltung der Anerkennung geneigt machen. Verweigerte Anerkennung heisst Verachtung, Verachtung wird in der modernen Gesellschaft epidemisch…

Die Verachtung ist ein Element, der Ab- und Ausgrenzung, Dinge vor denen man Angst hat, straft man durch Verachtung und trifft auf der anderen Seite die Schameswunden einer Kultur.

Kultur wird spätestens seit Huntingtons Clash of Civilizations (Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert) nicht länger als Heimatpflege und barocke Kirchenkunst missinterpretiert. Huntington unterstellte in seinem 1998 erschienenen Werk, dass eine identitätsstiftende Polarisierung der Ideologien wie in der Zeit des Kalten Krieges nicht mehr anzutreffen sein werde. Das Individuum werde demzufolge Sinn bzw. Identität wieder in seiner Kultur suchen, was eine Fokussierung auf Herkunft, Religion, Sprache, Sitten und Gebräuche, Werte und traditionelle Institutionen nach sich ziehen werde. Eine These, die aus heutiger Sicht beispielsweise im islamischen Kulturbereich sofort unterschrieben werden kann, der westliche Kulturbereich hingegen scheint die Kraft der Kultur zunehmend zu verlieren, eine tiefergehende Untersuchung scheint zumindest an anderer Stelle angebracht.

An dieser Stelle wird die Kultur als externe Einflussgröße als gegeben angenommen, das Individuum kann also trotz vernunftsorientierter Befreiung der Renaissance nicht als frei handelnd angesehen werden. Unterstrichen wird diese Annahme noch durch die Jeder-an-seinen-Platz-Mentalität der Japaner. Benedict verdeutlicht den krassen Unterschied zwischen japanischem Vertrauen in Ordnung und Hierarchie und unserem Glauben an Gleichheit und Freiheit im Westen. Unübersetzbare Begriffe wie „giri“, die eine Bandbreite von Verpflichtungen aus Dankbarkeit für eine erwiesene Freundlichkeit bis hin zur Pflicht zur Rache haben, lassen die japanische Kultur aus westlicher Sicht als nicht nachvollziehbar erscheinen und auch der Japaner setzt nicht zum Erklärungsversuch an. Benedict kommt zur Erkenntnis, dass „Schamkulturen“ auf einer äußeren Instanz beruhen, die Fehlverhalten sanktioniert. Schamgefühle entstehen demzufolge als Reaktion auf Kritik oder Bloßstellung von außen (die westlichen Kulturen werden als Gegenpol als Schuldkulturen kategorisiert).

Aber auch ohne das Extrembeispiel Japan weiss man seit Watzlawick, dass das Individuum dazu neigt, Dinge unnötig zu komplizieren. Die Anleitung zum Unglücklichsein enthält zahlreiche Beispiele, die aufzeigen, wie Menschen sich nicht selbst vertrauen, sondern nur anderen wohlgefallen wollen, es werden „Leitlinien“ aufgestellt, von denen das Gegenüber nichts weiss und die gesellschaftlich nicht notwendig oder verlangt sind. Die Geburtsstunde der Schamgesellschaft. Ein Konglomerat von Individualschämenden, das sich zum gemeinschaftlichen Fremdschämen hochgeschaukelt hat und die Kultur (sofern man sie noch als solche bezeichnen soll) lähmt, die sie vermeintlich ja eigentlich schützen will. Ein Konglomerat aber auch von unautonomen Angsthasen, die farblos durchs Leben schleichen, immer bemüht, nicht aufzufallen.

Der an anderer Stelle untersuchte Begriff des WIRRklichkeitsRAUMes fängt an dieser Stelle an, wirklich wirr und kompliziert zu werden. „Charakteristisch für den gegenwärtigen Augenblick ist jedoch, dass die gewöhnliche Seele sich über ihre Gewöhnlichkeit klar ist, aber die Unverfrorenheit besitzt, für das Recht der Gewöhnlichkeit einzutreten und es überall einzusetzen“, zu dieser Überzeugung kam Ortega y Gasset als er 1929 unter dem Eindruck der Weimarer Republik den Aufstand der Massen schrieb.

Sloterdijk weist darauf hin, dass Redewendungen von denen Elias Canetti oder der eben zitierte Ortega y Gasset Gebrauch machten, Patina angesetzt haben, da sie auf eine Phase der Modernisierung Bezug nehmen, in der das neue Massensubjekt sich noch aktuell versammeln kann und als anwesende Menge vor sich selbst in Erscheinung tritt. Im Zeitalter der Auflaufmassen erlebt sich der Massenmensch als wollendes, forderndes wortergreifendes Wesen.

In der modernen Gesellschaft, verdeutlicht Sloterdijk, haben die Massen aufgehört, Auflaufmassen zu sein und sind statt dessen in Regime eingetreten. Der Massencharakter kommt nicht mehr im physischen Konvent, sondern in der Teilnahme an Programmen von Massenmedien zum Ausdruck. Das Führer-Prinzip weicht dem Programm-Prinzip.

Aus dem unkörperlichen Unerleben der Auflaufmasse wechselt das unautonome Angstwesen in die Schamgesellschaft. Das Sombart´sche Massenindividuum hat den Draht zu sich und zur Masse verloren und stellt aus Gründen der kleingeistigen Angst schützende Regeln auf, von denen es selbstverständlich ausgeht, dass sie Allgemeingültigkeit besitzen. Ganz im Sinne Ortega y Gassets („Anderssein ist unanständig“) werden nichtoffizielle, private Regelwerke und andere Das-ist-halt-so-Gesetze aufgestellt und/oder mit der Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht-Regel als Allianzen gegen das imaginär Böse aufgebaut. Das Böse ist freigeistig und dummerweise auch immer erfolgreicher, denn die wirklich Vernünftigen handeln immer unvernünftig im Sinne des schamhaften Massenindividuums. Nach den Regeln der Vernunft hätte ein Konzern wie Microsoft nicht erfolgreich werden können, es gab IBM und warum sollte man dann noch ein MS-DOS benötigen? Was nicht in das kleingeistige Hirn passt, kann es auch nicht in der Wirklichkeit geben. Die konstruierte Wirklichkeit des Kleingeistes lässt einen Traum nie wahr werden. Passt nicht ins Bild, geht nicht, kann nicht sein…

Erarbeitetes Vermögen wie beispielsweise das von Steve Jobs, Bill Gates oder Mark Zuckerberg et al. ist aus Sicht des Biedermannes nicht nachvollziehbar. Sloterdiks „Hass gegen die Ausnahme“  trifft die Situation hier wohl am besten. Lieber spielt man jede Woche Lotto mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 139,8 Millionen auf einen Millionengewinn (anders ausgedrückt: 0,000000715 %), das ist dann wenigstens „ehrlich“, man weiß ja, wie „die“ (da oben) zu  ihrem Geld kommen, für einen Lottogewinn muss man sich nicht schämen…

Es lebe die Doppelmoral der Schamgesellschaft.

 

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