Nachdem die These aufgestellt wurde, dass jede Nachricht gealterte Zeit ist, die der Echtzeit eines Postings im Weg steht und von ihr absorbiert wird, soll dies anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. Die Deduktionskette, wonach die Weiterentwicklung eines Postings oder einer Schlagzeile zu einer stringenten Geschichte/Nachricht beim Social Media Individuum als unterbrochene Echtzeit empfunden wird, gilt es zu belegen. Das Raum-Zeit-Verständnis des Individuums muss hierzu einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Den konzeptionellen Bezugsrahmen liefert Stegers Ansatz, der die menschliche Lebenswelt als vierdimensionale, durch Raumzuschüsse elastifizierte Raum-Zeit auffasst.
Raum-Zeit
Die kulturellen Handlungs- und Erlebnisfelder werden als gemeinschaftliche Unternehmung mit dem Ziel der Legitimierung von Arbeit als Widerstandsleistung gegen den Gang der Natur definiert. Im Mittelpunkt der kulturellen Komplexe stehen religiös begründete Raum-ZeitVorstellungen, wobei „Raum-Zeit“ als einziger Begriff aufzufassen ist, um den herum sich die vier Horizonte Zivilisationsprozess, Gesellschaftsprozess, Kulturbewegung und kulturelle Zeitform ordnen. Anhand unterschiedlicher Kulturen (Mexiko und Europa) kommt Steger zu der Erkenntnis, dass im Raum-Zeit-Zentrum nicht das aztekische Menschenopfer, nicht das vorgegebene göttliche Heil oder ersatzweise die Heilung der Welt durch den Progress stehen, sondern in Geschwindigkeit verwandelte Zeit mit progressiver Einschrumpfung des Raumes (vgl. Steger, H.-A., Weltzivilisation & Regionalkultur – Wege zur Entschlüsselung kultureller Identitäten, München 1989). Das Resultat ist die von Steger kalssifizierte „Velocity-Elite“ (siehe hierzu auch: Geschwindigkeit zählt mehr als Argumente – vgl. Bolz/Bosshart, Kult-Marketing – die neuen Götter des Marktes, Düsseldorf 1995) als Kennzeichen der Weltzivilisation.
Echtzeit
Waren im Verlauf der Geschichte Erfindungen als zeitgebend (Druckerpresse, Computer etc.), raumnehmend (die Überwindung großer Räume durch den Telegraphen, später Telefon und Automobil) bzw. zeitgebend und gleichzeitig raumnehmend (Automobil, Flugzeug etc.) einzustufen, so konnte im Gegensatz dazu das Fernsehen als zeitnehmend klassifiziert werden. Zeit wird dann definiert als Nicht-Fernseh-Zeit und Fernseh-Zeit, wobei letztere eine vollkommen neue Zeitform indiziert. Musste der Mensch arbeits- bzw. produktionstechnisch bedingt seine physiologische Uhr an einer sozialen Uhr ausrichten, so zwingt ihn das Fernsehen dazu, seine innere Uhr an noch unnatürlicheren „Echt-Zeiten“ zu orientieren. Dies kann anhand des folgenden Beispiels nachvollzogen werden:
Während einer Live-Übertragung der Internationalen Französischen Tennismeisterschaften schaltete das ZDF zu den Nachrichten in die Sendezentrale um. Dies war der Tag, an dem Rechtsradikale ein Haus in Solingen anzündeten und fünf türkische Frauen und ein Mädchen in den Flammen starben. Die ZDF-Nachricht hierüber dauerten 90 Sekunden. Die Zeit zwischen den beiden Schaltvorgängen schnitt eine Lücke zwischen Matchball und Reaktionen auf den Sieg. Generell ist festzuhalten, dass die Umschaltung zu den Nachrichten die Zeit zerschneidet, ein Schnitt der vom Zuschauer als lästige Empfindung wahrgenommen (siehe hierzu auch: Kreimeier, Lob des Fernsehens, Wien-München 1995).
Postman hatte dieses Phänomen „Und jetzt … “ bereits vorher beschrieben. Mit Kreimeier kann nun hieraus abgeleitet werden, dass jede Nachricht gealterte Zeit ist, die der „Echtzeit“ der Live-Übertragung im Weg steht und von ihr absorbiert wird. Weiter kann hieraus deduziert werden, dass unterbrochene Echtzeit vom Zuschauer als verlorene, als tote Zeit, empfunden wird, eine „Un-Zeit“, die unangenehm daran erinnert, dass er beim Live-Geschehen auf dem Bildschirm aus seiner eigenen Lebenszeit heraus- und in eine andere, künstliche Zeit hineingeschlüpft ist.
Die hier kurz umrissene Problematik der Nachrichtensendungen alter Prägung als Dokumentation des vermeintlich realen Geschehens soll im folgenden einer Analyse unterzogen werden, um die Realitätsdarstellungen im Fernsehen weiterhin zu verdeutlichen. Schulz bemerkt hierzu: „Ereignisse werden erst dadurch zu Nachrichten, dass sie aus der Totalität und Komplexität des Geschehens ausgewählt werden. Nur durch Unterbrechung und Reduktion der raum-zeitlichen Kontinuität und der Ganzheit des Weltgeschehens lässt sich Realität umsetzen in Nachrichten (vgl. Schulz, W., Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, Freiburg-München 1990).
Im Vergleich hierzu stellt Steffens 1971 fest, dass der Zeitungsleser von über 99 Prozent allen Geschehens (weltweit) nichts erfährt, weil es nicht zur Kenntnis der Presse gelangt. Darüber hinaus gelangen über 99 Prozent aller Nachrichten, die schließlich doch der Presse bekannt werden, nie vor die Augen des Lesers, weil sie als zu unbedeutend, zu fragmentarisch, zu polemisch oder, nach den jeweils herrschenden Vorstellungen, zu „unsittlich“ aussortiert und dem Papierkorb anvertraut werden (vgl. Steffens, M., Das Geschäft mit der Nachricht, München 1971).
Es kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass dem einschaltquotenorientierten Katastrophen- und Hartz IV-Fernsehen mittlerweile eine Armada an Ich-Sendern gegenübersteht. Das Individuum begibt sich auch nicht mehr an einen festgelegten Opferplatz um den Mediengötzen zu huldigen, der trägt den Altar in Form eines Smartphones mit sich herum, sein Leben ist ein Datenstrom geworden und alles was seinen Posting-, SMS- oder Twitter-Fluss aus einem gleichmäßigen Fließen bringt wird zwangsläufig als Un-Zeit empfunden. Der direkte Dialog mit Augenkontakt scheint der Vergangenheit anzugehören.
Wann hast du das letze Mal dein Handy ausgeschaltet?
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